Lichtblick-School

The Theatre of Real Life Vol. 9

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Oktober 2015 - März 2016


Jens Wilhelmi


mit Arbeiten von:
Britta Baumann, Pavel Becker, Hans Dröst, Peter Grün,
Jana Hartmann, Christian Hartung, Gerd Hornfeck,
Oliver Raschka, Karla Schlichtmann, Jens Wilhelmi

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„It’s all fiction! Never make the mistake to think it’s reality!“ Diesen Ausspruch von Richard Avedon bei der Eröffnungsrede zu einer Ausstellung seiner äußerst präzise und unmittelbar fotografierten Portraits habe ich nie vergessen. Mir wurde dadurch bewusst, dass die Authentizität seines Werkes gerade darin besteht, sich nicht hinter wissenschaftlich beweisbaren neutralen Wirklichkeitsansprüchen zu verstecken, sondern mit radikaler Konsequenz sein ganz subjektives Bild des Menschen in der heutigen Welt zu formulieren.
Diese Auslotung der Schnittstellen zwischen Fiktion und Wirklichkeit bei der Realisierung von fotografischen Projekten ist ein ganz wesentlicher Aspekt bei dem Seminar „The Theatre of Real Life“ von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School in Köln. Bei aller Affinität des Mediums Fotografie zu einem detailgenauen Abbild der Welt, bleibt jede fotografische Arbeit eine persönliche Konstruktion von Wirklichkeit. Erst ein präzises Verständnis der eigenen Bildsprache macht es möglich, unverbrauchte Sichten auf unsere Lebenswelten jenseits der konventionellen Wahrnehmungsmuster zu entwickeln.


Britta Baumann

Für Britta Baumann ist der Akt des Fotografierens ein leidenschaftlicher Prozess. Sie schätzt die Präzision, mit der ihre Kamera, die Umwelt abbilden kann, aber sie strebt keine systematische objektivierende Darstellung an. Sie will sich auf ihren Reisen permanent überraschen lassen von jeder neuen Umgebung und immer bereit sein für die glücklichen Momente, in denen sich innere Bilder und äußere Welt für den Bruchteil einer Sekunde zusammenfügen. Sie erzählt dabei aber keine ganzen Geschichten in einem „entscheidenden Augenblick“, wie ihn Cartier Bresson als Credo der Streetphotography postulierte. Ihre Bildstrecke ist vielmehr eine assoziative Montage von gefundenen Objekten und Situationen, die keiner narrativen Logik folgen, sondern die radikale Offenheit eines persönlichen Tagebuchs verkörpert.


Christian Hartung, Love Schnuck

Dieses Prinzip eines vieldeutigen Zusammenspiels von Fragmenten der realen Welt treibt Christian Hartung mit seinen Dekonstruktionen von urbanen Räumen noch eine Stufe weiter. Die Faszination für Architektur war sein ursprünglicher Antrieb für die Serie Love Schnuck, aber im Laufe des Seminars wurde ihm immer mehr bewusst, dass eine blosse Abbildung von Häusern und Fassaden einen zu distanzierten Entwurf des städtischen Lebens liefern. Mit der visuellen Verschachtelung von ausschnitthaften Sichten auf Alltagskultur und Restnatur, Menschen und Gegenstände, Bilder und Zeichen, in seinen Bildpaaren schafft er dagegen imaginäre Räume, die vielschichtige Assoziationen erwecken und die Fantasie des Betrachters beflügeln, scheinbar Unbedeutendes und Vertrautes neu zu sehen.


Gerd Jornfeck

Gerd Hornfeck hat dagegen einen viel unverstellteren Blick auf das Theater des realen Lebens. Im Sinne einer echten Streetphotography geht er sehr direkt auf die Menschen zu. Erst die Aufhebung der Distanz macht es ihm möglich, Bilder voller ausdrucksstarker körperlicher Präsenz der Menschen zu schaffen. Gestik und Mimik der abgebildeten Passanten werden mittels einer sehr subjektiven Perspektive und der Nachbearbeitung seiner Fotografien expressiv in Szene gesetzt. Die Menschen in den Bildern wirken manchmal verloren und gehetzt im Chaos des städtischen Treibens, aber niemals macht sich der Fotograf über seine Protagonisten lustig. Vielmehr vermittelt er mit seinem genauen Blick auf Alltagssituationen voller ambivalenter Empfindungen ein tiefes Interesse an der Conditio Humana in unserer zeitgenössischen Welt.


Oliver Raschka, Static Tensions

Ohne Abbilder des Menschen zu zeigen, schaffen die Static Tensions von Oliver Raschka in ganz anderer Form ein eindrucksvolles Statement zur Gegenwartskultur, in der die Zeichen der Massenmedien nicht mehr getrennt vom realen Leben gesehen werden können. Der Fotograf entführt uns mit seinen visuell extrem verdichteten, wie Collagen anmutenden Bildern in tiefem Schwarz, strahlendem Weiß und nuanciertem Grau in das Labyrinth einer medialen Stadt, aus dem kein Entrinnen mehr möglich scheint. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion zerfließt vollständig. Dieser Verlust an Orientierung ist aber gerade die Qualität dieser Fotografien, da sie die Macht der allgegenwärtigen Mythen der Medienwelt ironisch brechen. Mit Bildwitz wird der routinierte Konsum von Werbeikonen ausgehebelt und kontrastiert mit einer Art magischem Realismus, der sich eine Rätselhaftigkeit bewahrt.


Hans Dröst, loops

Regelrecht ins Taumeln gerät der Betrachter in den Bildern der Serie loops von Hans Dröst. Wie in einer Achterbahnfahrt werden wir durch urbane Szenerien zwischen Volksfest und Demonstration geschleudert, aber trotz der Überdosis von visuellen Eindrücken verlieren wir uns nicht im städtischen Chaos. Bei aller Vielschichtigkeit des hochkomplexen Bilderstroms, findet Hans Dröst die besonderen, fast kontemplativen Momente, in denen die Menschen sich in einem merkwürdigen Gefühlszustand zwischen Verlorenheit und Entrücktsein befinden. Der Fotograf bewegt sich wie ein Flaneur durch die immer wiederkehrenden Rituale des Alltagslebens mit einem Fuß in der Welt des Gewohnten und mit dem anderen in surreal wirkenden Fantasieräumen.


Peter Grün, Die vertanzten Schuhe

Im Spannungsfeld von Dokumentation und Erfindung bewegt sich auch die fotografische Serie Die vertanzten Schuhe von Peter Grün. Fasziniert von der ganz eigenen Welt, die sich die Zeichnerin Hetty Krist mit ungewöhnlichen Fundstücken erschaffen hat, wollte der Fotograf ursprünglich mit detailgenauen Abbildungen ihres persönlichen Lebensumfeldes ein subtiles Portrait dieser sehr eigenwilligen Person schaffen. Im Laufe des Arbeitsprozesses wurde klar, dass präzise Reproduktionen ihrer liebevoll gesammelten Gegenstände nicht dem vielschichtigen Bild der Künstlerin gerecht wurden. Erst in der völligen Konzentration auf eines ihrer Objekte - die Tanzschuhe - mit vielfältigen Formen der Abstraktion und fast meditativen Verdichtung findet Peter Grün den Reichtum an assoziativer visueller Kraft, der seinen subjektiven Empfindungen diesem biografischen Kosmos voller Rätsel gegenüber Ausdruck verleihen kann.


Jana Hartmann, 2x3 macht 4

„Was ist hier eigentlich noch natürlich?“ Diese Frage muss man sich ständig stellen, wenn man sich auf die Reise in die Bildwelten von Jana Hartmann begibt. Ihre Arbeit 2 mal 3 macht 4 folgt keiner narrativen Logik. Dokumente von Inszenierungen des Natürlichen in urbanen Räumen werden kontrastiert mit Inszenierungen des Miniaturmodells eines Dokumentarfotografen auf der Suche nach der Schönheit der Natur. Mit einem Augenzwinkern wird die falsche Natürlichkeit der Fotografie entlarvt und der skeptische Blick des Betrachters gegenüber eindeutigen Interpretationen unserer Lebenswelten geschärft. Spielerische Perspektivwechsel, irritierende Verschiebungen der Größenverhältnisse und absurde Konstellationen von Alltagsobjekten halten unser Auge wach und ermöglichen auf humorvolle Weise unkonventionelle Einblicke in das vielschichtige Verhältnis von Mensch und Natur.

Während Jana Hartmann ihre persönliche Haltung mit der konzeptionellen Verschachtelung von unterschiedlichen Bildstrategien formuliert, entwickelt Jens Wilhelmi seine sehr eigenständige persönliche Bildsprache aus der unmittelbaren Auseinandersetzung mit seinem Lebensumfeld. Mit dem sicheren Instinktiv eines Strassenfotografen ist er mit großer Sehlust ständig auf der Suche nach ausdrucksstarken Komprimierungen seiner Sinneswahrnehmungen. Mit intensiver Farbigkeit und starker grafischer Verdichtung entstehen Bilder mit expressionistischer Wirkungskraft. Diese sind ein lebendiger Ausdruck eines intensiven Dialogs mit den alltäglichen Objekten, denen wir ansonsten kaum Achtung schenken. Losgelöst von einem rein funktionalen Kontext und befreit von einer eindeutigen begrifflichen Definition entwickeln sie ein Eigenleben und helfen uns damit, verkrustete Interpretationsmuster aufzubrechen.


Karla Schlichtmann, Leerstand

Im Gegensatz zu den Konstruktionen des Realen von Jens Wilhelmi, die sich nicht auf einen konkreten Ort beziehen, sondern sich wie ein Puzzle zu einem Metaraum zusammenfügen, lebt die Arbeit Leerstand von Karla Schlichtmann gerade von der präzisen Betrachtung von Veränderungen eines klar definierten Lebensraumes - ihrer Heimatstadt Ludwigshafen. Seit 2010 beobachtet sie, wie immer mehr verlassene Geschäftsräume das Bild der Stadt prägen. Für die Dokumentation dieses Zustandes hat sie eine fotografische Konzeption verfolgt, die durch eine konsequente Verwendung von Kameraperspektiven eine vergleichende Betrachtung der Räume möglich macht, ohne dabei eine neutrale, objektive Sicht vorzugeben. Sie klagt nicht an und ihr geht es auch nicht um eine sachliche Analyse, sondern vielmehr um ein sehr persönliches Reagieren auf Umwandlungen, die sie mit Sorge verfolgt, aber in denen sie auch die Hoffnung auf Neuanfang spüren lässt. Der subtile Einsatz von Licht und Farbe lässt einen eigenartigen ästhetischen Reiz entstehen, der einen spannungsvollen Kontrast zur Tristesse des Leerstandes bildet.


Pavel Becker

Stay Comfort ist auf einem der Fotografien von Pavel Becker zu lesen, aber so richtig bequem kann es sich der Betrachter in seinen Bildern nicht machen. Das urbane Leben stellt sich als eine einzige permanente Baustelle dar und hinter den perfekt aufgeräumten Fassaden unserer Städte spürt der Fotograf die Bruchstellen auf, in denen der Lack der schönen Mythen bröckelt. Nichts mehr scheint zusammenzupassen in dieser eigenartigen Zwischenwelt. Ist der Kaktus eigentlich echt, der auf einer Doppelseite mit kitschig goldenen Verzierungen um die Wette sprießt und wie soll einem der Rettungsreifen helfen, der verloren in einer Betonidylle an der Wand hängt? Der Bildwitz in den Aufnahmen von Pavel Becker erinnert an „Playtime - Tatis Herrliche Zeiten“, dem Kultfilm aus dem Jahr 1967, der die grotesken Aspekte einer unpersönlichen Moderne mit bissiger Ironie und subtilem Humor in Szene gesetzt hat.