Katalog zum Seminar von Wolfgang Zurborn in Berlin 2024
Seminarkatalog Die Erfindung des Realen 2, Titelbild: Bodo Viebahn
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mit Arbeiten von
Eva Brunner, Torsten Pauer, Regina Kramer, Jörg Dedering, Eva Grillhösl, Henning Willner, Christine Mansfeld, Christine Herold, Bernd Dumke, Tobias Keppler, Bodo Viebahn und Christoph Linzbach
und einem Text von Wolfgang Zurborn
Auch wenn das hervorstechendste Merkmal der Fotografie in ihrer scheinbar direkten Affinität zum Bild der realen Welt liegt, trügt die Vorstellung, mit ihr ein eindeutiges Bild der Wirklichkeit schaffen zu können. Keine technische Perfektion oder strenge Konzeption kann eine Garantie liefern, der Wahrheit bei der Abbildung der Lebenswelt näher zu kommen. Fotografische Werke können nicht losgelöst von den individuellen Erfahrungen der Bildautor*innen gesehen werden, ihren persönlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Prägungen. Nur aus einer selbst Schritt für Schritt erschlossenen Perspektive kann ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, mit der fotografischen Wahrnehmung aussagekräftige Bilder zu schaffen, die hinter die Fassade des Offensichtlichen vordringen. Eine freie poetische Erfindung des Realen muss dabei keinen Gegensatz zu einer dokumentarischen Wirklichkeitstreue bilden. Die Überwindung einer nüchternen Katalogisierung der Welt, die rein logischen Gesetzmäßigkeiten folgt, ermöglicht es vielmehr, mit assoziativen Verknüpfungen ein komplexes und vitales Bild gegenwärtigen Lebens zu kreieren. Die Einbeziehung des Unerwarteten, des oft auch Paradoxen, schafft erst die Grundlage für einen emotionalen Zugang zu den in diesem Katalog vorgestellten Arbeiten.
Diese bewegen sich alle im Spannungsfeld zwischen Dokument und Erfindung. Die intensive Suche nach authentischen persönlichen fotografischen Sichten auf die Alltagswelt richtet sich dabei sowohl auf gesellschaftliche Zusammenhänge wie auch auf private Beziehungen, auf prägnante Phänomene der Gegenwart wie auch auf fragile Konstruktionen der Erinnerung an Vergangenes. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung entsteht ein komplexes Geflecht von inhaltlichen und formalen Bezügen, das die Fotografie aus dem Korsett der Illustration von Text befreit und ihr damit die Möglichkeit verleiht, ihre spezifische Qualität als eigenständige Sprache zu manifestieren.
Eva Brunner
Eva Brunner nimmt uns mit den tagträumerischen Visionen ihrer Fotoserie SO mit auf eine Reise in innere und äußere Welten. Den Spuren Caspar David Friedrichs auf der Insel Rügen folgend, kreiert sie ein poetisches Zusammenspiel von magischen Sichten auf die Landschaft mit sehr persönlichen Blicken auf ihren Lebenspartner. Auf sehr subtile und unkonventionelle Art und Weise wird eine eigene Interpretation der Romantik vorgestellt, die die Beziehung von Mensch und Natur, Nähe und Distanz, Authentizität und Inszenierung neu formuliert.
Torsten Pauer
Mit seiner Arbeit Der Kanal hat Torsten Pauer sein Augenmerk auf einen Ort gerichtet, der für ihn von elementarer Bedeutung für seine Identität und seine kreative Inspiration ist: den Donaukanal in Wien. In seinem persönlichen Umfeld gelegen, erkundet er mit neugierigem Blick die Mutation dieses früher vernachlässigten Ortes hin zu einem beliebten Freizeittreff. Über dieses dokumentarische Interesse hinaus ist in den mit eigenwilligen Perspektiven erfassten Szenerien spürbar, dass dieser urbane Raum für den Fotografen eine Bühne darstellt für Geschichten, die tief in seiner Erinnerung eingebettet sind.
Regina Kramer
Um einen Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geht es auch in der Arbeit Wo es war von Regina Kramer. Sie fotografierte in den KZ Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück und der historischen Hinrichtungsstätte der JVA Wolfenbüttel. Mit dem Bewusstsein, dass sie in ihren Aufnahmen nicht die Verbrechen darstellen kann, die das NS Regime an den Menschen begangen hat, konzentriert sie sich auf die Verortung des Schreckens. Die Vorstellungskraft der Betrachter*innen wird gefordert, zu erahnen, was an diesen Orten vor ca. 70 Jahren passierte, die in den Bildern so aufgeräumt und mit blauem Himmel fast friedlich erscheinen, wenn man nicht genau hinschaut. Diesen hinterfragenden Blick zu schärfen, ist das Hauptanliegen der Fotografin.
Jörg Dedering
Die Dimension Zeit spielt auch in dem fotografischen Porträt der Stadt Berlin von Jörg Dedering eine zentrale Rolle. Aufnahmen aus den 90er-Jahren kombiniert er Stoß an Stoß mit Fotografien aus der Gegenwart und läßt den urbanen Raum in den Bildzusammenstellungen dabei wie einen Organismus erscheinen, in dem zugleich historische und persönliche Prozesse transparent werden. Radikal ausschnitthafte Perspektiven und vielschichtige visuelle Konstrukte mit Variationen von Schärfeebenen kreieren einen Sog von Bildern, in den man eintauchen und dabei eine analytische Distanz zu der Stadt und ihren Menschen aufgeben kann. Gerade dadurch wird dem Lebensgefühl in Berlin ein unverwechselbarer Ausdruck verliehen.
Eva Grillhösl
Aus der Leere voll betitelt Eva Grillhösl ihre fotografische Serie, die auf einer Reise nach Japan entstanden ist. So rätselhaft wie der Titel ist auch der Zusammenklang ihrer Bilder, die keinem logischen System folgen und nicht den Anspruch erheben, eindeutige Aussagen und Wertungen über eine fremde Kultur vermitteln zu wollen. Gerade in der Absichtslosigkeit und dem Vertrauen in eine intuitive Wahrnehmung liegt die Chance, Situationen des Alltäglichen so zu erfassen, dass sie über das Faktische hinaus eine imaginäre Kraft entwickeln, die existenzielle Fragen aufwirft.
Henning Willner
Mit einem subtil trockenen Humor führt uns die Bildstrecke Heute ist Geburtstag von Henning Willner wieder zurück in die heimische Arbeitswelt. Wie in einem Kammerspiel werden die Requisiten des alltäglichen Lebens im Büro mit kurios wirkenden Stillleben so in Szene gesetzt, dass sie Geschichten über die Veränderung von zwischenmenschlichen Beziehungen in dem Prozess der Digitalisierung erzählen. Die Wandlung bei der Zelebrierung von Geburtstagen veranschaulicht dabei auf eindrückliche Weise, welche Auswirkungen die Dominanz des Home Office auf unseren Alltag hat.
Christine Mansfeld
Den Stadtraum als eine Bühne für geschichtliche, gesellschaftliche und mediale Spuren menschlicher Kultur dokumentiert Christine Mansfeld schon seit vielen Jahren und hat die dabei entstandenen Fotografien in der Serie Chemnitz - Die Erfindung des Realen zusammengefasst. Sie hat bei diesem Projekt nicht die Absicht, mit einer werbenden Architekturfotografie ein idealisierendes Bild der Stadt zu entwerfen. Der Reiz ihrer Fotografien liegt eher darin, dass sie nicht-hierarchische Bildkompositionen schafft, in denen alle abgebildeten Details der urbanen Welt in einem Licht gezeigt werden, das ihnen eine besondere Bedeutung verleiht. Dieser demokratische Blick stellt eine Einladung dar, Schönheit gerade dort zu entdecken, wo man sie normalerweise nicht erwartet.
Christine Herold
Auch Christine Herold erkundet mit den Farbfotografien ihrer neuen Serie Nebenan das alltägliche Leben in der Stadt, aber sie entwickelt dabei ein komplett anderes Narrativ. Ihre hochformatigen Aufnahmen entrücken die abgebildeten Objekte, architektonischen Fragmente, Restnaturen und Menschen einer konkreten Verortung. Sie stellt mit ihren ungewöhnlichen Sichten auf das eigentlich sonst Übersehene immer wieder die Frage, was die Welt in der Jetztzeit noch zusammenhält. Diese Offenheit in der Wahrnehmnung gibt den Betrachter*innen die Freiheit zu eigenen Interpretationen des Gesehenen.
Bernd Dumke
Die Omnipräsenz der Mythen eines amerikanischen Traums ist das Kernmotiv einiger Arbeiten in diesem Katalog. Hier wird besonders deutlich, wie dünn die Trennwand zwischen Realität und Erfindung geworden ist. Bernd Dumke folgt schon seit über 30 Jahren dem Lockruf in die USA. Angetrieben von dem nostalgischen Gefühl, wieder On the Road zu sein auf dem schmalen Grat zwischen den großen Träumen von Freiheit und der Realität heruntergekommener Motels, war er auch 2024 unterwegs in diesem Land der extremen Gegensätze. In seiner Serie Sugar City erstrahlen die Mythen in gleißendem Licht und zugleich sind die Bruchstellen des Glanzes latent allgegenwärtig. Auch wenn Autos und Tankstellen das Bild bestimmen, erscheint die Welt in einem merkwürdig entschleunigten Zustand.
Tobias Keppler
Mit dem letzten Bild in seiner Serie Life Jackets setzt auch Tobias Keppler einen Kontrapunkt zur Hybris eines amerikanischen Selbstverständnisses, in einem permanenten Wettstreit, immer weiter in die Wolken ragende Hochhäuser zu konstruieren. Bei einer 11-tägigen Reise nach New York hat sich der Fotograf sehr intensiv eingelassen auf die einzigartige, Macht demonstrierende Architektur dieser Megacity. Einerseits spiegeln seine Aufnahmen dabei eine Faszination für die imposanten Gebäude wider, aber indem er das Bild von Rettungswesten zum Sinnbild seiner Serie macht, wird deutlich, dass er zugleich einen skeptischen Blick auf diese Gigantomanie hat.
Bodo Viebahn
Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist das zentrale Thema der fotografischen Arbeiten von Bodo Viebahn. Er bietet dabei aber keine einfachen Antworten mit eindeutigen Botschaften an. Die assoziativen Verknüpfungen der Diptychen und Triptychen aus seiner Werkgruppe Urban >< Nature sensibilisieren die Betrachter*innen vielmehr für die vielschichtigen Fragestellungen im Hinblick auf den Verlust von Naturerfahrungen im städtischen Leben. Die Sehlust bei der Wahrnehmung der Bildkombinationen macht es möglich, komplexe inhaltliche Bezüge jenseits ideologischer Bevormundungen erfassen zu können.
Christoph Linzbach
Die grundlegende Idee des Fotoseminars Die Erfindung des Realen, dass es keine strikte Trennung zwischen Dokument und Inszenierung gibt, kommt bei der Arbeit That's life! von Christoph Linzbach besonders deutlich zum Ausdruck. Bei seiner Reise durch die USA spürt er die amerikanischen Mythen in der ganzen Bandbreite der Gesellschaft von Hochkultur bis hin zu Volksfesten auf. Im Dialog mit den Menschen kreiert er in einer Kombination von Dokumentar- und Straßenfotografie letztlich eine Inszenierung der Inszenierung des American Way of Life. Das authentische Bild einer Gesellschaft in Zeiten einer Überschwemmung mit Fake News und der omnipräsenten Legenden eines amerikanischen Traums zeigt sich hierbei gerade inmitten dieses kollektiven Schauspiels.