6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
November 2019 - April 2020
Cover des Katalogs zum Seminar The Theatre of Real Life vol. 16, Fotografie: Petra Gerwers
mit Arbeiten von:
Sandra Drljaca • Janick Entremont • Petra Gerwers • Thomas Gerwers • Chris Göttert • Michael Grundhever • Steffi Sonntag
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Was steht bei der fotografischen Erfassung der Lebenswelt am Anfang, die Idee oder das Bild, das Konzept oder die Intuition? Der Akt des Sehens ist kein mechanischer Vorgang, sondern eine hochkomplexe Verknüpfung von emotionalen und rationalen Wahrnehmungen. Wir sehen mit unserer Erinnerung, unseren gesellschaftlichen und kulturellen Prägungen, unserem Wissen, unseren Ängsten und Sehnsüchten. Es ist ein Phänomen, dass die ausdrucksstärksten und vielschichtigsten Bilder oft gerade diejenigen sind, die scheinbar absichtslos und zufällig entstehen. Ein unmittelbares Sehen kann Türen öffnen zu einer persönlicher Weltsicht, die nicht von allen widersprüchlichen Empfindungen bereinigt ist und das Leben in all seiner vitalen Paradoxie zeigt.
„Sehen statt bedeuten wollen“ ist eine der Kernthesen der Fotoseminare von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School in Köln. Es geht in den Kursen darum, den Teilnehmer/Innen eine Sicherheit zu vermitteln, an die eigene Wahrnehmung zu glauben und die Konzepte für die fotografischen Serien aus der intensiven Betrachtung der eigenen Bilder heraus zu entwickeln. Wenn das Bedeuten im Vordergrund steht, geht der Blick für die scheinbar unwesentlichen Details der Lebenswelt verloren, die nicht der beabsichtigen Aussage dienen. Es ist gerade die Kunst, allem Abgebildeten einen Freiraum zu lassen, über sich selbst zu erzählen. Dieser Dialog wird erst möglich, wenn man der Intuition vertraut und die Angst aufgibt, ohne ein striktes Konzept der Beliebigkeit zu verfallen. Dabei hilft nur ein genaues Hinschauen. Mit diesem Bewusstsein sind in dem Fotoseminar fotografische Serien entstanden, die auf unterschiedliche Weise die Schnittstellen zwischen inneren Bildwelten und äußerer Alltagswirklichkeit ausloten, zwischen Imagination und Dokument.
Janick Entremont, Tetris
Eine Hand am Lenkrad und ein verkniffenes Auge sind zwei fragmentarische Ansichten auf den Menschen von Janick Entremont, die versinnbildlichen, dass die Reise, auf die uns seine assoziative Verkettung von Fotografien mitnimmt, nicht zu einem konkreten Ort führt. In starker Abstraktion erscheinen Alltagsobjekte losgelöst von ihrem funktionalen Kontext und kreieren im Zusammenwirken eine Form der Imagination, die uns hinter geschlossene Augenlider zu führen vermag. Mit dem Titel Tetris macht Entremont klar, dass es sich für ihn um einen spielerischen Prozess handelt, Ordnungssysteme zu schaffen, in denen die unterschiedlichen Formen der realen Welt immer wieder neu interpretiert werden können.
Petra Gerwers,Applause to Life
Petra Gerwers möchte dagegen in ihrer Serie Applause to Life das Leben feiern. Wechselnde Perspektiven und Formate fügen sich in einer dynamischen Bildsequenz auf farbigen Hintergründen zu einem psychedelisch wirkenden Roadtrip zusammen. Mythos und Realität, Erdung und Überhöhung ringen in einem visuellen Sog permanent miteinander. Dabei entsteht eine rauschhafte Wahrnehmung der Welt, die aber bei einem zweiten Blick auch eine reflexive Betrachtung möglich macht. Die oft skurril wirkenden Kombinationen von kuriosen Einblicken in zeitgenössisches Leben evozieren eine neugierige Hinterfragung. Die glückliche Verschmelzung von Pathos und Ironie lässt eine Hymne an des Lebens entstehen, die frei ist von unkritischer Idealisierung.
Sandra Drljaca, Sorry
Eine uneträgliche Traurigkeit des Seins wird dagegen in den S/W-Fotografien der Serie Sorry von Sandra Drljaca spürbar. In einer entschleunigten Welt wird der Alltag zu einer Art Kammerspiel, in dem die fotografierten Protagonist/Innen, Gegnstände und Orte in unverstellter Direktheit und dabei feinsinniger Detailgenauigkeit in Szene gesetzt werden. Kein Bühnenbild wird gebaut und keine Person erhält eine Regieanweisung. Es ist allein der behutsam neugierige Blick auf das persönliche Umfeld, der Licht in das Dunkel routinierten Tagesabläufe bringt. Die Erkenntnis, sehen zu wollen ohne werten zu müssen, schafft den Freiraum für einen intensiven Dialog mit der Umwelt, der das Bewusstsein für die eigene Rolle in diesem Theater des Lebens schärft.
Michael Grundhever, Wie ich dem Blick derer entkam
Mit selbstironischem Humor ist auch Michael Grundhever auf der Suche nach der eigenen Identität. Seine Farbfotografien unter dem Titel Wie ich dem Blick derer entkam folgen dabei aber einer vollkommen anderen Strategie. Sie schlagen in ihrer Abfolge visuelle Finten, die sich jeder linearen Erzählung oder eindeutigen Logik entziehen. Alle Bilder entstehen im persönlichen und beruflichen Umfeld und doch wirken sie im harten Blitzlicht und mit ungewöhnlichen Anschnitten wie surreal entrückt aus der Normalität des Alltags. Fern jeder Effekthascherei ist es gerade die Schaffung dieser paradoxen Zwischenwelt, die den abgebildeten Menschen, Objekten und Räumen eine ungeheure physische Präsenz verleiht.
Thomas Gerwers, Start Staring
Wie in einem Tagebuch fügen sich bei der Serie Start Staring von Thomas Gerwers erlebte Momente eines permanent Reisenden zu einem visuellen Strom voller assoziativer Beziehungen zusammen. Intime Nähe stößt dabei auf geheimnisvolle Fremdheit, archaische Animalität auf menschliche Zivilisation. Die fliessenden Übergänge zwischen den behandelten Sujets von Porträts über Stillleben bis hin zu Momentaufnahmen basieren nicht auf logisch begrifflichen Verkettungen, sondern auf der Körperlichkeit des Gesehenen. Für diese Wahrnehmung der Lebenswelt ist es von entscheidenderBedeutung, seinem Instinkt zu vertrauen. Das ist eine besondere Herausforderung für Thomas Gerwers, der sein Leben lang in verschiedenster Form beruflich mit der Rezeption und Publikation von Fotografie beschäftigt war. Es ist eine glückliche Symbiose, wenn Intuition und Reflexion zusammenkommt.
Steffi Sonntag, Der Augenblick
Der unwiederbringliche Moment im Fluss des alltäglichen Lebens, in dem man sich in einem intensiven Dialog mit der Aussenwelt verbunden fühlt, ist das Kernmotiv der S/Wfotografien von Steffi Sonntag mit dem Titel Der Augenblick. Es sind dabei die klassischen Ideale einer Streetphotography, die die Qualität dieser Standbilder von Szenerien des Alltags ausmachen. Mit einem präzisen Gespür für das Besondere im Zufälligen sucht die Fotografin im öffentlichen Leben nach authentischen Zeugnissen des Gegenwärtigen. Nur in der Ungestelltheit von Momentaufnahmen kommt für sie zum Ausdruck, was ihrem empathischen Verhältnis zu den Menschen gerecht wird.
Chris Göttert, Slow Forward
Einem inneren Monolog gleicht die Serie Slow Forward von Chris Göttert. Fantasiewelten und Realräume geraten hier in einen betörenden Strudel. Die
experimentelle Montage verschiedenster Abbildungstechniken von S/W und Farbe, positiv und negativ, straight und überlagert, lässt eine Art Bewusstseinstrom entstehen, eine radikal subjektive Erzählung. Traum und Wirklichkeit durchdringen sich gegenseitig im visuellen Konstrukt der Bildsequenz. Reste des Authentischen sind dabei immer präsent und Urbanität in architektonischen Ansichten erfahrbar. Die Menschen taumeln an der Grenze zwischen Wahrheit und Fake, zwischen Realität und Imagination, ein Zustand der für das heutige Leben signifikant ist.