6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Januar- Juni 2024
Cover des Seminarkatalogs The Theatre of Real Life vol. 24, Foto: Andrea Diener
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mit Arbeiten von / with works by;
Stefanie Jania, Andrea Diener, Gudula Röttger, Willi Filz,
Miriam Leitner, Gregor Nick und Jan-Axel Finck
Mit der fotografischen Wahrnehmung unserer Lebensräume begeben wir uns auf eine Reise in eine mehr oder weniger vertraute äußere Welt und erforschen zugleich die inneren Bilder, die von unserer ganz subjektiven Vorstellung des Gegenwärtigen geprägt sind. Jede neue Erfahrung von Orten, Objekten, Menschen und Tieren eröffnet uns die Möglichkeit, Vertrautes in einem anderen Licht zu sehen und sich dem Unbekannten vorurteilsfrei anzunähern. Eine Voraussetzung für diesen kreativen Prozess ist es, sich einzulassen auf eine intuitive Perzeption von allem was uns im Alltag begegnet. Ohne dem Abgebildeten eine eindeutige Funktion und Wertung zuzuschreiben kann das Sehen als ein individuelles Erlebnis verstanden werden, das keinem rationalen Zweck folgen muß. Die Aufgabe von Bildern ist es dabei nicht, Konzepte zu bebildern oder Systeme zu beweisen. Im idealen Fall ist es eine Sehlust, die dem intensiven Dialog mit der Außenwelt einen lebendigen Ausdruck verleiht.
Alle Teilnehmer*innen des 6-monatigen Fotoseminars "The Theatre of Real Life" von Wolfgang Zurborn in der Lichtblick School in Köln sind angetrieben von der Leidenschaft, mit einer ganz persönlichen Bildsprache ungewöhnliche Geschichten über das Leben zu erzählen. Für die Fotograf*innen Stefanie Jania, Andrea Diener, Gudula Röttger, Willi Filz, Miriam Leitner, Gregor Nick und Jan-Axel Finck war es bei der Entwicklung ihrer fotografischen Serien von entscheidender Bedeutung, verstehen zu lernen, welches die Grundbausteine ihrer Story sind, worüber sie genau das vermitteln, was ihrer zentralen Motivation zum Bildermachen gerecht wird.
With the photographic perception of our living spaces, we embark on a journey into a more or less familiar outer world and at the same time explore the inner images that are characterised by our very subjective idea of the present. Every new experience of places, objects, people and animals opens up the possibility of seeing the familiar in a different light and approaching the unknown without prejudice. A prerequisite for this creative process is to engage in an intuitive perception of everything we encounter in everyday life. Without ascribing a clear function and judgement to what is depicted, seeing can be understood as an individual experience that does not have to follow a rational purpose. The task of images is not to illustrate concepts or prove systems. Ideally, it is a desire to see that gives vivid expression to the intensive dialogue with the outside world.
All participants in Wolfgang Zurborn's 6-month photo seminar ‘The Theatre of Real Life’ at the Lichtblick School in Cologne are driven by a passion to tell unusual stories about life using a very personal visual language. For the photographers Stefanie Jania, Andrea Diener, Gudula Röttger, Willi Filz, Miriam Leitner, Gregor Nick and Jan-Axel Finck, it was crucial in the development of their photographic series to learn to understand what the basic building blocks of their story are, what they use to convey exactly what does justice to their central motivation for making pictures.
Stefanie Jania, Urban Tramps
Stefanie Jania hat mit ihrer Serie Urban Tramps einen ungewöhnlichen Blick auf Tauben in unseren städtischen Räumen geworfen. Völlig gegenläufig zu dem schlechten Ruf, eine einzige Plage für uns Menschen zu sein, verleiht sie den Vögeln eine würdevolle Präsenz im alltäglichen Treiben. Erhaben schreiten sie im Gleichschritt mit Passanten, elegant schweben sie durch die Lüfte und erwartungsvoll lauern sie auf einem Gerüst. In vielschichtigen Bildkompositionen werden sie als den Menschen gegenüber gleichberechtigte Wesen gezeigt, wodurch es möglich wird, eine Empathie für sie zu entwickeln. Weniger dramatisch und gefährlich als bei Hitchcocks Vision der Vögel werden sie auch in den Fotografien von Stefanie Jania zu eigenständigen Kreaturen.
With her series Urban Tramps, Stefanie Jania has taken an unusual look at pigeons in our urban spaces. In complete contrast to their bad reputation of being a nuisance to us humans, she gives the birds a dignified presence in the hustle and bustle of everyday life. They stride majestically in step with passers-by, float elegantly through the air and lurk expectantly on scaffolding. In multi-layered pictorial compositions, they are shown as beings on an equal footing with humans, making it possible to develop empathy for them. Less dramatic and dangerous than in Hitchcock's vision of the birds, they also become independent creatures in Stefanie Jania's photographs.
Andrea Diener, City of the Euro
Mythos und Wirklichkeit begegnen sich in Andrea Diener's fotografischer Annäherung an das Bankenviertel in Frankfurt, die City of the Euro. Auch wenn es für die in der Stadt lebenden Fotografin eigentlich ein bekannter Ort ist, so empfindet sie ihn als eine ganz eigene fremd wirkende Welt. Das in der gläsernen Architektur reflektierte Licht läßt ihre in den Strassen eingefangenen Szenen wie Momente aus einem fiktiven Film aussehen. Ihre Protagonist*innen erscheinen oft wie verlorene Figuren in einem künstlichen Ambiente. In der Bildsequenz mit einem Wechsel von Hoch- und Querformaten sowie von Totalen und Nahaufnahmen wird eine ganz eigene Choreographie des Urbanen geschaffen, die eine Spannung entstehen läßt zwischen der kalten Pracht der architektonischen Bühne und der körperlichen Präsenz der Menschen.
Myth and reality meet in Andrea Diener's photographic approach to the banking district in Frankfurt, the City of the Euro. Even though it is actually a familiar place for the photographer, who lives in the city, she perceives it as an alien world all of its own. The light reflected in the glass architecture makes the scenes she captures in the streets look like moments from a fictional film. Her protagonists often appear like lost figures in an artificial ambience. The sequence of images, alternating between portrait and landscape formats as well as long shots and close-ups, creates a unique choreography of the urban, creating a tension between the cold splendour of the architectural stage and the physical presence of the people.
Gudula Röttger, Bits and Pieces
Das vitale Chaos in den Straßen von Istanbul bildet dagegen einen großen Kontrast und übt gerade deshalb auf Gudula Röttger eine große Faszination aus. In hochkomplexen detailreichen Kompositionen schichtet sie mehrere Bildebenen auf eine so überzeugende Weise, dass die Betrachter*innen eintauchen können in eine urbane Vielfalt ohne sich in ihr zu verlieren. Manche Fotografien ihrer Serie Bits and Pieces wirken wie Collagen, bei denen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sich in besonderen Momenten zu verbinden scheinen. Die Menschen in ihren Bildern sind weder isolierte Individuen noch gehen sie in einer anonymen Masse unter. Sie werden vielmehr als Charaktere dargestellt, die immer eingebunden sind in gesellschaftliche Zusammenhänge. Im besten Sinne verkörpern die Fotografien von Gudula Röttger die Philosophie einer Street Photography, die nichts beweisen will, sondern in unvorhersehbaren Augenblicken nach überraschenden Begegnungen sucht.
The lively chaos in the streets of Istanbul, on the other hand, forms a great contrast and therefore exerts a great fascination on Gudula Röttger. In highly complex, detailed compositions, she layers several levels of images in such a convincing way that the viewer can immerse themselves in an urban diversity without getting lost in it. Some of the photographs in her Bits and Pieces series look like collages in which the present, past and future seem to come together in special moments. The people in her pictures are neither isolated individuals nor are they lost in an anonymous mass. Rather, they are portrayed as characters who are always integrated into social contexts. In the best sense, Gudula Röttger's photographs epitomise the philosophy of street photography, which does not seek to prove anything, but rather searches for surprising encounters in unpredictable moments.
Willi Filz, Versuch, die Leiter zu besteigen
Eine ganz eigene poetische Kraft entwickeln die S/W-Fotografien von Willi Filz aus der Serie Versuch, die Leiter zu ersteigen. Auf mehreren Reisen in Georgien entstanden, entwerfen sie ein subtiles, feinsinniges Bild dieses Landes, eine "human landscape", in der die Spuren menschlichen Lebens in allen Details zu sehen sind, selbst wenn sich ein weiter Blick auf Naturräume oder Stadtlandschaften richtet. In der Sequenzierung mit Momentaufnahmen von Menschen, die mit großer Leichtigkeit ein großes Spektrum von Emotionen widerspiegeln, entstehen wahrhaftige Dokumente georgischer Alltagskultur. Gerade weil die fotografische Wahrnehmung hier keine sachliche Objektivität propagiert, keinem strengen Konzept folgt und sich somit von einem oft noch existierenden Dogma des Dokumentarischen befreit, kann Willi Filz mit seinem sehr persönlichen und offenen Blick ein so vielschichtiges Bild von Georgien schaffen.
The b/w photographs by Willi Filz from the series Versuch, die Leiter zu ersteigen (Attempt to climb the ladder) develop a poetic power all of their own. Taken on several trips to Georgia, they create a subtle image of this country, a ‘human landscape’ in which the traces of human life can be seen in every detail, even when a wide view is directed towards natural spaces or urban landscapes. In the sequencing with snapshots of people, which reflect a wide range of emotions with great ease, true documents of Georgian everyday culture emerge. Precisely because the photographic perception here does not propagate factual objectivity, does not follow a strict concept and thus liberating itself from the dogma of the documentary that often still exists, Willi Filz is able to create such a multi-layered image of Georgia with his very personal and open gaze.
Miriam Leitner, Eingefleischt
Das Verhältnis der Menschen zu den Tieren ist das zentrale Motiv der Serie Eingefleischt von Miriam Leitner. Schon die erste Fotografie in der Bildstrecke läßt die emotionalen Konflikte bei dem Umgang mit Nutztieren erahnen. Die beiden Kühe wirken hier wie Teile der Familie und eine Empathie für die Tiere ist deutlich spürbar. Trotzdem ist es unvermeidlich, dass die Geschichte auf der Schlachtbank endet. Auch wenn drastische Ansichten, wie ein in der Blutlache liegender Tierkörper, nicht ausgespart werden, so liegt es der Fotografin völlig fern, die Betrachter*innen schockieren zu wollen. Entgegen jeder moralisierenden Botschaft oder kitschigen Vermenschlichung der Tiere geht es vielmehr darum, auf unspektakuläre Weise eine Sensibilität für die komplexen Beziehungen zwischen Humanem und Animalischem zu entwickeln.
The relationship between humans and animals is the central motif of Miriam Leitner's series Eingefleischt. The very first photograph in the series gives an idea of the emotional conflicts involved in dealing with farm animals. The two cows appear to be part of the family and an empathy for the animals is clearly perceptible. Nevertheless, it is inevitable that the story ends at the slaughterhouse. Even if drastic views, such as an animal carcass lying in a pool of blood, are not omitted, the photographer has no intention of shocking the viewer. Contrary to any moralising message or kitschy humanisation of the animals, the aim is rather to develop a sensitivity for the complex relationships between the human and the animal in an unspectacular way.
Gregor Nick, Zwei
Auch bei Gregor Nick geht es in seinen fotografischen Arbeiten der Serie Zwei um Beziehungen, wenn auch auf ganz andere Weise. Sein Thema hat er in einem offenen konzeptionellen Prozess für sich entdeckt. Bei der Sichtung seines Bildmaterials, das er im Stil einer Strassenfotografie bei vielen Reisen aufgenommen hat, ist ihm bewußt geworden, dass er immer wieder Paare in ganz unterschiedlichen Konstellationen aufgenommen hat. Die Verknüpfungen zwischen den Bildern basieren dabei aber nicht auf einer streng typologischen Reihung von offensichtlich Vergleichbarem. Es sind eher assoziative Verkettungen, die durch die visuellen Dialoge auf den Doppelseiten entstehen, die die Fantasie der Betrachter*innen anregen, ihre Vorstellungen von dem was Paarsein bedeuten kann zu erweitern.
Gregor Nick's photographic works in the Zwei (Two) series are also about relationships, albeit in a completely different way. He discovered his theme in an open conceptual process. When looking through his photographic material, which he has taken in the style of street photography on many journeys, he realised that he has repeatedly photographed couples in very different constellations. However, the links between the pictures are not based on a strictly typological sequence of obvious comparisons. Rather, they are associative links created by the visual dialogues on the double pages, which stimulate the viewer's imagination to expand their ideas of what being a couple can mean.
Jan-Axel Finck, Hot Salt
Ein wahres Theater des realen Lebens entfaltet sich in den Fotografien von Jan-Axel Finck mit dem Titel Hot Salt. Vorgefundenes Licht wird im öffentlichen Raum so geschickt eingesetzt, dass alle Akteur*innen in den vitalen Standbildern des städtischen Tohuwabohus mit ihrer Körpersprache und Mimik eindrucksvoll zur Geltung kommen. Auch wenn die Bilder in ganz unterschiedlichen Städten entstanden sind, entwickeln sie im Zusammenspiel ein überzeugendes Narrativ. Keine lineare Logik von Ort und Zeit schafft dabei ihre Verknüpfung, sondern die Sprache der Bilder, die einen unmittelbaren visuellen Dialog zwischen den Bühnen, Requisiten und Protagonist*innen des Alltags möglich machen. Auch wenn die Fotografien Dokumente realer Erfahrung von Gegenwärtigem sind, so sind sie zugleich ein subjektiver Entwurf von Wirklichkeit, der sich loslöst von dem rein Faktischen und somit neue Beziehungen eingehen kann.
A true theatre of real life unfolds in the photographs by Jan-Axel Finck entitled Hot Salt. The light found in the public space is used so skilfully that all the protagonists are impressively shown to advantage with their body language and facial expressions in the vital still images of the urban hullabaloo. Even though the images were created in very different cities, they develop a convincing narrative in their interplay. They are not linked by a linear logic of place and time, but by the language of the images, which enable an immediate visual dialogue between the stages, props and protagonists of everyday life. Even if the photographs are documents of real experiences of the present, they are at the same time a subjective construction of reality that detaches itself from the purely factual and can thus enter into new relationships.