6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Januar bis Juni 2025

Cover des Seminarkatalogs The Theatre of Real Life vol. 26, Foto: Anna Brockdorff
mit Arbeiten von / with works by;
Urban Hopen, Isabelle M. Coordes, Lars Klein, Andreas Schlechtriem, Holger Kempf,
Hans-Jürgen Sommer, Anna Brockdorff und Lea Kuhl
Der Ton im gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen wird in der heutigen Zeit immer schärfer. Ein Dialog mit gegenseitiger Wertschätzung scheint kaum mehr möglich, da die ideologischen Gegensätze unüberbrückbar scheinen und zu heftigen Konfrontationen führen. Welche Rolle spielt dabei das Medium Fotografie? Auf der einen Seite wird dieser Konflikt mit einer Flut von KI-generierten Fake Bildern angefeuert, die auf propagandistische Weise politisch einseitige Inhalte vermitteln und somit dazu beitragen, dass die Gemeinschaft gespalten wird und Teile der Gesellschaft unversöhnlich gegenüberstehen. Je perfekter die Täuschung wird, desto schwerer wird es, Wahrheit und Fälschung voneinander zu unterscheiden.
Auf der anderen Seite steht die künstlerische Haltung, mit einer persönlichen fotografischen Bildsprache authentische Zeugnisse des Zusammenlebens in der gegenwärtigen Welt zu schaffen. Losgelöst von dem Anspruch streng konzeptioneller Dokumentarfotografie, objektive Wahrnehmungen mit eindeutig definierten Inhalten vermitteln zu wollen, wird eine subjektive Sicht auf unser Lebensumfeld postuliert. Erst die Befreiung von der Absolutheit einer perfekten Illusion sowie eines dogmatischen Wahrheitsanspruchs, ermöglicht auf diese Weise einen lebendigen Dialog mit dem Gegenüber, der in dem aktuellen Zustand der Gesellschaft von eminenter Bedeutung ist.
Die Teilnehmer*innen des Fotoseminars "The Theatre of Real Life" - Urban Hopen, Isabelle M. Coordes, Lars Klein, Andreas Schlechtriem, Holger Kempf, Hans-Jürgen Sommer, Anna Brockdorff und Lea Kuhl - nähern sich in ihren fotografischen Serien auf ganz unterschiedliche Weise dem Menschen als Teil einer Gemeinschaft. Mit einem breiten Spektrum stilistischer Mittel zwischen Dokument, Inszenierung und Experiment wird ein Beziehungsgeflecht geschaffen, dass das Individuum im vielschichtigen Kontext von Öffentlichkeit und Privatheit zeigt.
Flipbook des Seminarkatalogs "The Theatre of Real Life vol. 26"
The tone of social interaction between people is becoming increasingly harsh in today's world. Dialoguebased on mutual respect seems almost impossible, as ideological differences appear irreconcilable and lead to heated confrontations. What role does the medium of photography play in this? On the one hand, this conflict is fuelled by a flood of AI-generated fake images that convey politically biased content in a propagandistic manner, thus contributing to the division of the community and unforgiving conflicts between parts of society. The more perfect the deception becomes, the more difficult it is to distinguish truth from fake.
On the other hand, there is the artistic approach of using personal photographic imagery to create authentic testimonies of coexistence in the contemporary world. Detached from the claim of strictly conceptual documentary photography to convey objective perceptions with clearly defined content, a subjective view of our living environment is postulated. Only liberation from the absoluteness of a perfect illusion and a dogmatic claim to truth enables a lively dialogue with the other, which is of paramount importance in the current state of society.
The participants in the photography seminar ‘The Theatre of Real Life’ – Urban Hopen, Isabelle M. Coordes, Lars Klein, Andreas Schlechtriem, Holger Kempf, Hans-Jürgen Sommer, Anna Brockdorff and Lea Kuhl – approach the human being as part of a community in very different ways in their photographic series. Using a broad spectrum of stylistic means ranging from documentary to staging and experimentation, they create a network of relationships that shows the individual in the multi-layered context of public and private life.

Urban Hopen Angesiedelt
In der Arbeit Angesiedelt von Urban Hopen ist zwar kein Bewohner des von ihm portraitierten Straßendorfes zu sehen, aber trotzdem sind in den präzise gesehenen Einblicken in alltägliche Szenerien der Ortschaft Spuren der Sehnsüchte zu sehen, die die Menschen antreiben und welche Kompromisse sie dabei eingehen müssen. Individualität und Konformität bei der Gestaltung des Lebensraumes ringen in allen Fotografien miteinander. Dies wird in den Bildern deshalb so stark vermittelt, weil der Fotograf keine rein typologische serielle Reihung gleicher Perspektiven bei neutralem Licht gewählt hat. Erst die Kombination von architektonischen Detailansichten mit weiten Blicken in das Umland des Dorfes sowie die Gegenüberstellung von nüchtern wirkenden Straßenszenen mit dramatischen Lichtstimmungen, ermöglicht die Sensibilisierung der Betrachter*innen für die subtilen Hinweise auf die hinter den Fassaden der Häuser verborgenen Emotionen.
In Urban Hopen's work Settled, none of the residents of the street village he portrays are visible, but nevertheless, traces of the longings that drive people and the compromises they have to make can be seen in the precise insights into everyday scenes in the village. Individuality and conformity in the design of living space struggle with each other in all the photographs. This is conveyed so strongly in the images because the photographer has not chosen a purely typological serial sequence of identical perspectives in neutral light. It is only the combination of detailed architectural views with wide vistas of the village's surroundings, as well as the juxtaposition of sober-looking street scenes with dramatic lighting, that enables viewers to become aware of the subtle hints of emotions hidden behind the facades of the houses.

Isabelle M. Coordes Parallelwelten
Isabelle M. Coordes nimmt uns in ihren Fotografien der Serie Parallelwelten dagegen mit in das turbulente Geschehen auf öffentlichen Märkten. Sie hebt dabei eine distanzierte Betrachtung auf, so dass wir eintauchen können in das komplexe Spiel von Gestik und Mimik der Passant*innen im urbanen Raum. Momente werden so pointiert eingefangen, dass in jedem Bild komplexe Erzählungen visualisiert werden. Manche Fotografien wirken dabei wie Collagen mit verschiedenen Handlungsebenen, in denen deutlich wird, wie sehr wir parallel existierende Welten wahrnehmen, obwohl wir zur selben Zeit am gleichen Ort sind. Mit ihrem fragmentarischen und radikal subjektiven Blick entrückt die Fotografin das Gesehene aus der Banalität des Gewöhnlichen und lässt alltägliche Objekte wie Requisiten in einem Theaterstück wirken, das auf der Bühne des Stadtraumes aufgeführt wird. Die abgebildeten Personen werden dabei zu Protagonist*innen ihres eigenen Lebens.
In her photographs from the series Parallel Worlds, Isabelle M. Coordes takes us into the turbulent hustle and bustle of public markets. She adopts a detached perspective, allowing us to immerse ourselves in the complex interplay of gestures and facial expressions of passers-by in urban spaces. Moments are captured so poignantly that complex narratives are visualised in each image. Some photographs appear like collages with different levels of action, revealing how much we perceive parallel worlds even though we are in the same place at the same time. With her fragmentary and radically subjective gaze, the photographer removes what she sees from the banality of the ordinary and makes everyday objects appear like props in a play performed on the stage of urban space. The people depicted become protagonists of their own lives.

Lars Klein Echos
Während Isabelle M. Coordes mit ihren Straßenfotografien nach den zufälligen Momenten sucht, in denen ihre Vorstellung des Gegenwärtigen zum Ausdruck kommt, kreiert Lars Klein mit seinen inszenierten Portraitfotografien eine komplett andere Erzählung. In den S/W-Aufnahmen der Serie Echos ist es eine Akteurin, der wir in der Bildsequenz folgen und die in sehr expressiver Form unterschiedliche emotionale Zustände zum Ausdruck bringt. Der Fotograf nutzt dabei die Möglichkeiten eines Fotostudios, um in konzentrierter Atmosphäre mit einer subtilen Lichtführung die Körpersprache seiner Darstellerin perfekt in Szene zu setzen. In der Sequenzierung der Serie werden die Portraits mit Fotografien im Stile eines magischen Realismus kombiniert. Grafisch verdichtete Darstellungen von Landschaften, Pflanzen und Objekten erscheinen auf der Schnittstelle zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit und bilden dadurch imaginäre Räume, die sich einer zeitlichen und örtlichen Zuordnung entziehen und damit der Fantasie der Betrachter*innen freien Lauf lassen.
While Isabelle M. Coordes searches for random moments in her street photography that express her idea of the present, Lars Klein creates a completely different narrative with his staged portrait photographs. In the black-and-white pictures of the Echos series, we follow one actress in a sequence of images as she expresses different emotional states in a highly expressive manner. The photographer uses the possibilities offered by a photo studio to perfectly stage his protagonist's body language in a concentrated atmosphere with subtle lighting. In the sequencing of the series, the portraits are combined with photographs in the style of magical realism. Graphically condensed representations of landscapes, plants and objects appear at the interface between abstraction and figuration, thus forming imaginary spaces that elude temporal and spatial classification and allow the viewer's imagination to run free.

Andreas Schlechtriem Unterwegs mit Kamera
In den Bildwelten von Andreas Schlechtriem begegnen wir dagegen wieder ganz konkreten Orten in meist städtischen Szenerien. Die Serie Unterwegs mit Kamera fasst Momentaufnahmen aus ganz verschiedenen Kontexten zusammen und doch können wir etwas Verbindendes in den flüchtig wirkenden Konstellationen des Alltäglichen sehen. Mit einer Verliebtheit in Details werden in vielschichtigen Kompositionen komplexe Bezüge von Mensch, Architektur und medialen Zeichenwelten sichtbar gemacht. Wandbemalungen, Graffitis, Slogans und Werbebotschaften sind omnipräsent in unserer Lebenswelt und vermitteln dabei die ganz unterschiedlichen Wunschträume, politischen Haltungen und persönlichen Enttäuschungen der Menschen. Andreas Schlechtriem macht dabei keine einfachen Reproduktionen dieser Botschaften, sondern lässt sie sich zu einem facettenreichen Netzwerk verknüpfen, in dem der Mensch nach einer Orientierung sucht.
In Andreas Schlechtriem's imagery, on the other hand, we encounter very specific locations, mostly in urban settings. The series On the Road with Camera brings together photographs from very different contexts, yet we can see something connecting in the seemingly fleeting constellations of everyday life. With a love of detail, complex relationships between people, architecture and media symbols are made visible in multi-layered compositions. Wall paintings, graffiti, slogans and advertising messages are omnipresent in our everyday lives, conveying people's very different dreams, political attitudes and personal disappointments. Andreas Schlechtriem does not simply reproduce these messages, but links them together to form a multifaceted network in which people seek orientation.

Holger Kempf Vereinsleben
In den Arbeiten von Holger Kempf und Hans-Jürgen Sommer geben Vereine den Menschen einen Halt und eine Struktur in ihrer persönlichen Lebensplanung. Die beiden Fotografen haben bei der Annäherung an diese Form der Gemeinschaft sehr unterschiedliche fotografische Strategien, auch weil die Involviertheit in die vorgestellten Vereine eine ganz andere ist.
Holger Kempf ist schon sehr lange Zeit aktives Mitglied eines Sportvereins, der sich der Faszination für das Unterwasserrugby verschrieben hat. Bei aller Nähe zu seinen Kollegen ist es deshalb eine besondere Herausforderung für ihn, genügend Distanz zu entwickeln, um eine visuelle Erzählung zu kreieren, die auch ein Publikum erreicht, das sich nicht allein für den Sport interessiert. Szenen, in denen der kämpferische Wettstreit um den Ball im Wasser gezeigt wird, machen nur einen kleinen Teil seiner Serie Vereinsleben aus. Das Augenmerk wird vielmehr auf das Randgeschehen neben dem Schwimmbecken gerichtet, auf Organisatorisches wie die Bearbeitung von Startgenehmigungen wie auch den gemeinschaftlichen Genuss eines erholsamen Drinks an der Bar nach dem körperlichen Kraftakt. Stillleben von Sportutensilien in der Umkleidekabine und pointierte Sichten auf architektonische Details der Sportstätte zeugen von einer erfrischend selbstironischen Perspektive auf den Verein.
In the works of Holger Kempf and Hans-Jürgen Sommer, clubs give people stability and structure in their personal life planning. The two photographers have very different photographic strategies in their approach to this form of community, partly because their involvement in the clubs presented is very different.
Holger Kempf has been an active member of a sports club dedicated to the fascination of underwater rugby for a very long time. Despite his close relationship with his colleagues, it is therefore a particular challenge for him to develop enough distance to create a visual narrative that also reaches an audience that is not solely interested in the sport. Scenes showing the competitive battle for the ball in the water make up only a small part of his series Club Life. Instead, the focus is on the events taking place around the pool, on organisational matters such as the revision of start permits, as well as on the communal aspect of enjoying a relaxing drink at the bar after the physical exertion. Still lifes of sports equipment in the changing room and pointed views of architectural details of the sports facility testify to a refreshingly self-ironic perspective on the club.

Hans-Jürgen Sommer Männerchor
Für Hans-Jürgen Sommer steht der Männerchor für ein ideales gemeinschaftliches Streben nach künstlerischer Perfektion und zugleich für traditionelle Werte eines freundschaftlichen Zusammenwirkens. Er hat eine Außensicht auf den Chor, weil er nicht Teil dieser Vereinigung von Musikern ist. Gerade das macht es für ihn möglich, mit seinen S/W-Fotografien im dokumentarischen Stil Augenblicke bei den Proben einzufangen, in denen die Mimik, Gestik und Körpersprache der Sänger der kollektiven Realisierung eines musikalischen Werkes Ausdruck verleiht. Auch wenn keine Stimmen zu hören sind, kann man sich als Betrachter*in vorstellen, wie die einzelnen Akteure verschiedenen Alters und aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zusammengewürfelt, gemeinsam einen Klangkörper bilden, der als kreative Vereinigung von Individuen hin zu einer mannigfaltigen Einheit empfunden werden kann.
For Hans-Jürgen Sommer, the male choir represents an ideal collective pursuit of artistic perfection and, at the same time, the traditional values of friendly cooperation. He has an outside perspective on the choir because he is not part of this association of musicians. This is precisely what enables him to capture moments during rehearsals in his documentary-style black-and-white photographs, in which the facial expressions, gestures and body language of the singers give expression to the collective realisation of a musical work. Even though no voices can be heard, viewers can imagine how the individual performers, of different ages and from very different social groups, come together to form a sound ensemble that can be perceived as a creative union of individuals into a diverse unity.

Anna Brockdorff Zeit-Sprünge
Anna Brockdorff und Lea Kuhl richten ihren Blick dagegen auf ihr privates Umfeld, die Familie, und schaffen dabei Bilderwelten voller poetischer Kraft, die ein breites Spektrum von Emotionen zum Ausdruck bringen.
Alte Familienbilder sind der Grundstock der Serie Zeit-Sprünge von Anna Brockdorff. Mit experimentellen Techniken der Collage und Montage kreiert die Künstlerin vielschichtige Konstruktionen von Erinnerung. Hier wird kein klar definiertes Bild einer homogenen biografischen Entwicklung behauptet. Es sind gerade die paradoxen Beziehungen zwischen Fotografien, Grafiken und Übermalungen, die einen gefühlsbetont fantasievollen Zugang zu den heterogenen Empfindungen zwischen absoluter Nähe und distanzierter Verunsicherung ermöglichen. Bilder werden in einem Zustand der Metamorphose zwischen Auflösung und Konkretisierung gezeigt und bewegen sich somit auf der Schnittstelle zwischen Dokument und Imagination. Wie in einem Puzzle fügen sich fragmentarische Einblicke in ein Familienleben zusammen mit Fantasiewelten, die sich in keine einfachen Ordnungen sperren lassen.
Anna Brockdorff and Lea Kuhl, on the other hand, focus their attention on their private sphere, the family, creating imagery full of poetic power that expresses a wide range of emotions.
Old family photographs form the basis of Anna Brockdorff's series Leaps in Time. Using experimental collage and montage techniques, the artist creates multi-layered constructions of memory. No clearly defined image of a homogeneous biographical development is asserted here. It is precisely the paradoxical relationships between photographs, graphics and overpaintings that enable an emotionally charged, imaginative approach to the heterogeneous feelings between absolute closeness and distant uncertainty. Images are shown in a state of metamorphosis between dissolution and concretisation, thus moving at the interface between document and imagination. Like in a jigsaw puzzle, fragmentary insights into family life are combined with fantasy worlds that cannot be easily categorised.

Lea Kuhl Wenn es nach Lauschen riecht
Ihre ureigenen Empfindungen in dem langen Prozess, Mutter zu werden fasst Lea Kuhl in ihrer Serie Wenn es nach Lauschen riecht zusammen. Bei der Ausarbeitung dieser Sequenz von Bildern hat sie ein ganz präzises Gespür dafür entwickelt, welches Material seinen Platz in ihrem privaten Familienalbum hat und welches sie für eine Arbeit über Persönliches verwenden kann, das für eine Öffentlichkeit bestimmt ist. So sind ihr Baby und ihr Partner auch nicht omnipräsent in ihrer Auswahl von Fotografien. Auf sehr subtile Weise macht sie mit den Bilddialogen auf den Doppelseiten ihre gesteigerte Sensibilisierung für Veränderungen in ihrem Lebensumfeld nachvollziehbar. Ihre ungewöhnlichen Perspektiven auf alltägliche Objekte lassen diese jenseits ihrer funktionalen Bedeutung in einer Sinnlichkeit erscheinen, die wie die Verkörperung eines emotionalen Zustands gesehen werden können.
Lea Kuhl summarises her own feelings during the long process of becoming a mother in her series The Scent of Listening. In developing this sequence of images she has developed a very precise sense of which material belongs in her private family album and which she can use for a work about personal matters that is intended for public consumption. Thus, her baby and her partner are not omnipresent in her selection of photographs. In a very subtle way, she uses the image dialogues on the double pages to convey her heightened sensitivity to changes in her living environment. Her unusual perspectives on everyday objects allow them to appear beyond their functional significance in a sensuality that can be seen as the embodiment of an emotional state.