Lichtblick-School

Theatre of Real Life Vol. 6

6-monatiges Seminar von Wolfgang Zurborn an der Lichtblick School
Oktober 2013 - März 2014


Cover des Katalogs zum Seminar, Foto: Lisa Farkas, It's Me


mit Arbeiten von:
Lisa Farkas, Camillo Reiser, Klaus Kasperszak, Anaid Namohl,
Eckart Bartnik, Peter Joester, Jo Oerter, Martina Ehlers, Tanja Truoel

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Fotografische Arbeiten können kein eindeutiges Bild der Wirklichkeit schaffen. Die besondere Qualität des Mediums Fotografie liegt vielmehr darin, dass wir mit ihr unserer individuellen Wahrnehmung der Welt Ausdruck verleihen können. Ein wesentlicher Aspekt bei dem Entwurf einer subjektiven Perspektive auf das Leben ist die visuelle Formulierung eines Erfahrungsraumes, in dem alles Abgebildete in einem Bezugssystem zueinander steht.
Das breite Spektrum an persönlichen Entwürfen von Lebenswelten, die in dem 6-monatigen Seminar "The Theatre of Real Life" an der Lichtblick School Köln entstanden sind, macht deutlich, welch differenzierte und subtile Qualitäten das Medium Fotografie entwickeln kann, wenn es sich einer ideologischen Sicht entzieht.


Lisa Farkas, It's Me

Lisa Farkas zeichnet mit ihren tagebuchartigen Bildzusammenstellungen ein sehr feinsinniges Spannungsfeld zwischen privaten und öffentlichen Welten. Intensive S/W- Portraits und Körperbilder, die eine intime Nähe zu den abgebildeten Personen spürbar machen, werden Bilder aus dem urbanen Umfeld entgegengestellt, die mit ungewöhnlicher Perspektive, radikaler Ausschnitthaftigkeit und intensiver Farbigkeit eine Erfahrungswelt mit magischer Anziehungskraft und gleichzeitiger Entfremdung entstehen lässt. Das Zusammenspiel von expressiv, impressionistisch und manchmal auch psychedelisch wirkenden Fotografien schafft mit großer Leichtigkeit eine Balance zwischen Authentizität der Gefühle in einer zur Fiktion gewordenen Welt.


Camillo Reiser

Camillo Reiser schaut dagegen mit einem sehr direkten Blick auf sein Umfeld und spürt dabei mit insistierender Detailgenauigkeit die skurrilen, oft auch beklemmenden Aspekte unserer Lebenswelt auf. Dirk Reinartz hatte seinen Bildband mit ähnlichen Sichten auf deutsche Alltagswirklichkeit Innere Angelegenheiten genannt. Verdeutlicht wird damit der Verlust eines öffentlichen Lebens und eine Verödung der städtischen Räume, weil die Bewohner sich hermetisch in ihrer eigenen Welt verschließen. Man könnte auch an den Film Angst essen Seele auf von Rainer Werner Fassbinder denken, wenn man die Schutzräume sieht, in die sich alle zurückziehen und in die sie keine Einmischung wünschen.


Klaus Kasperszak, Herzland

In der Serie Herzland von Klaus Kasperszak kommt zum Ausdruck, wie sehr der Fotograf verwurzelt ist in dem Lebensraum, den er in seinen Bildern beschreibt. Es sind Spuren der Erinnerung, die sich zu einem persönlichen Bild eines von industrieller Nutzung geprägten Ortes zusammenfügen. Die sachliche Dokumentarfotografie der 80er Jahre wollte mit strenger Konzeption, neutralem Licht und einheitlicher Perspektive ein eindeutiges Bild der Realität jenseits einer subjektiven Empfindung schaffen. Diese ängstliche Distanz zu seinem Sujet ist Kasperszak fremd. Er sucht die Nähe zu den Menschen und kreiert mit Detailsichten auf Häuser, Wohnzimmer und Gegenstände des täglichen Lebens ein vielschichtiges Netz von gegenseitigen Prägungen.


Anaid Namohl

Anaid Namohls Bildwelten entführen den Betrachter in einen Tagtraum, der keine Grenze mehr zwischen Realität und Fiktion erkennen lässt. Ein konkreter Ort ist nicht mehr festzumachen. Tableauxartig angeordnet entwerfen ihre Fotografien dagegen einen imaginären Raum. Abbildungen von Natur scheinen eine Orientierung zu geben und entpuppen sich dann doch als künstliche Welten. Immer wiederkehrende völlig abstrahierte Fotografien von Farbflächen machen unmissverständlich deutlich, dass die Fotografin dem Abbild der Fotografie keinen Glauben schenkt und ihr es allein auf die visuelle Kraft ihrer Bilderfindungen geht. So folgen die Protagonisten in ihren Fotografien auch keinem vordergründig Sinn gebenden Script, sondern verkörpern den Zustand der Orientierungssuche.


Eckart Bartnik, Verzahnung

Die Verzahnung von Geschichte und Gegenwart zeigt Eckart Bartnik mit seinen Fotografien aus Flossenbürg in der Oberpfalz. Die Schrecken der Nazivergangenheit dieses Ortes mit seinem KZ in zentraler Lage sind zwar nicht direkt sichtbar zu machen, aber äußerst präzise Betrachtungen der Alltagswirklichkeit schaffen eine Sensibilität für die noch vorhandenen Spuren dieses unmenschlichen Systems. Wir sehen keine sachlich neutralen Abbildungen dörflicher Szenerien, sondern Einschnitte in Raum und Zeit, die mit einem präzisen Bewusstsein für den geschichtlichen Kontext gesellschaftliche Strukturen entschlüsseln. Ohne jegliche plakative Symbolik werden in extrem verdichteten Kompositionen unspektakuläre Orte zu bedeutungsvollen Szenerien, da alles Dargestellte in ein eigenartiges Spannungsverhältnis zueinander gesetzt wird. Ein Misstrauen gegenüber der dörflichen Idylle schleicht sich unvermeidlich ein.


Peter Joester, La Batte

Die Suche nach dem Theater des realen Lebens hat Peter Joester zum Wochenmarkt La Batte in Lüttich geführt. Jeden Sonntag wird auf einer Strecke von 3,6 km alles feilgeboten, was das Herz begehrt von Gemüse über Kleintiere bis hin zu Antiquitäten. Für einige Stunden wandelt sich dieser Ort zu einem Anziehungspunkt für unzählige Einheimische und Touristen und es bildet sich ein städtisches Leben in Reinkultur, wie man es sonst kaum mehr in unseren immer anonymer werdenden urbanen Räumen finden kann. Der Fotograf stürzt sich mitten ins Geschehen und hält mir viel Bildwitz besondere Momente fest, in denen einzelne Protagonisten aus dem Fluss der Menschenmassen hervorgehoben werden und zu Darstellern täglicher Rituale werden. Dabei verkörpern sie das ganze Spektrum emotionaler Zustände zwischen Erschöpfung und Exaltiertheit.


Jo Oerter, Hier ist auch die andere Seite

Die Isolierung des Individuums von seinen Mitmenschen ist dagegen das Thema der Serie Hier ist auch die andere Seite von Jo Oerter. Seine Fotografien handeln von Mauern und Zäunen. In Ihrer allgegenwärtigen Präsenz stellen sie für ihn Symbole für die Unfähigkeit zur Kommunikation in unserer Gesellschaft dar. Der Wille nach Abgrenzung scheint größer als die Neugier auf das Andere. Eine sachliche Typologisierung dieser Schutzwälle käme für ihn einer Perpetuierung dieses Zustandes gleich. Nicht die konkreten Orte sind das Sujet seiner Bilder. Sie mutieren in fotografischen Selbstinszenierungen zu psychologischen Räumen, in denen die Sehnsucht nach Veränderung ihren Ausdruck findet.


Martina Ehlers, Als die Gedanken schlefen

Als die Gedanken schliefen tat sich für Martina Ehlers eine Welt auf, in der Gefühlszustände eine konkrete sichtbare Form angenommen haben. Ihre oft düster wirkenden subtilen Beobachtungen des privaten Umfeldes entziehen sich einer detailgenauen Beschreibung, aber sie verlieren sich nicht in freischwebenden Assoziationen. Sie machen sich vielmehr fest an Fotografien von konkreten Personen und Objekten. Dabei lassen sie ein emotionales Netz von Beziehungen entstehen. SW-Fotografien mit einer sehr starken formalen Stringenz fügen sich zu Traumsequenzen zusammen, die auf einem schmalen Grat zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, zwischen Verortung und Auflösung des Raumes, dem spannungsvollen Changieren zwischen Sehnsucht und Wirklichkeit Ausdruck verleihen.


Tanja Truoel, Ich und der Rest der Welt

Die Verknüpfung von Außen- und Innenwelten ist auch das Anliegen von Tanja Truoel mit ihrer Serie Ich und der Rest der Welt. Farbbilder im Panoramaformat lösen mit einer sehr bewussten Verwendung der Unschärfe den realen Erlebnisraum auf und lassen ihn in einem filmischen Band zu einer sehr subjektiven Reise durch den Alltag zusammenfliessen. Trotz einer radikalen Reduktion der Bildinformation in jeder einzelnen Fotografie entsteht durch eine sehr geschickte Abfolge der Motive eine vielschichtige Erzählform, die es dem Betrachter möglich macht, den Verlauf eines fiktiven Tages im Leben von Tanja Truoel nachempfinden zu können.

Diese Arbeitsweise hat Tanja Truoel im Verlauf der Workshops der Lichtblick School entwickelt, da sie eine Skepsis gegenüber den Bildern entwickelt hatte, die sie früher auf Reisen in ferne Länder gemacht hatte und dabei feststellen musste, dass die Fotografien dieser fremden, exotischen und als "sehenswert" bezeichneten Orte immer wieder Reproduktionen oft gesehener Klischees darstellten. Eine der wichtigsten Erkenntnisse für alle Teilnehmer des Seminars "The Theatre of Real Life" ist es, dass wir mit der Fotografie keine Abbilder der Wirklichkeit schaffen, keine "guten" Bilder von "interessanten" Orten sammeln, sondern mit individuellen Bildsprachen Wahrnehmungsräume für persönliche Beobachtungen kreieren.